Mietje Bontjes van Beek
 Das Buch: Auszüge

Verbrennt diese Brief - Kindheit und Jugend im Hitlerreich (Auszüge)

Das Dorf am Fluss

In den weiten Niederungen der Wümme - ganz unter Eichen verborgen - liegt der kleine Ort Fischerhude bei Bremen. Wie ein weitmaschiges Netz teilt sich der Fluß, windet und streckt sich in vielen Armen durch und um das Dorf…. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Licht kommen Maler nach Fischerhude und finden dieses Leuchten…."(Seite 6)

Der Großvater

Es war einmal ein kleiner Gänsejunge, der aus den Fenstern der Häuser seines Dorfes Blei heraus brach, um damit zu zeichnen…. Man schrieb das Jahr 1864. Seine künstlerische Begabung wurde bald erkannt. Zu jener Zeit lebte in Fischerhude …der Gastwirt und Bäcker Joseph Hein. Dieser kluge Mann, geistig beheimatet in der traditionsreichen jüdischen Gemeinde zu Ottersberg, hatte seit längerer Zeit den kleinen, künstlerisch begabten Knaben beobachtet und befunden, dass ein solches Talent gefördert werden müsste….. Man brachte ihn in die große Stadt des Landes. Der König von Hannover stattete den Jungen au… und ließ ihn an der Polytechnischen Schule zum Zeichner ausbilden….. Der junge Maler aus dem kleinen Dorf Fischerhude (Bremen) wurde später als Mitglied in die bekannte „Münchener Schule" aufgenommen. Er kam an den Hof König Ludwigs II. von Bayern der den Künstler aus dem Norden und nach einigen Jahren zum „Königlichen Professor" ernannte….. Jener kleine Junge, der einst die Gänse seines Dorfes hütete… und ein Künstler wurde, war mein Großvater, Heinrich Breling. Im Alter kehrte er mit seiner Frau Amalie und seinen sechs Töchtern wieder in sein Dorf zurück…. Die zweitälteste, Louise, heiratete Otto Modersohn…., die Jüngste der Schwestern, Olga, 1896 in Fischerhude geboren, ist meine Mutter gewesen…." (Seite 10/11)

Die Familie

In einer großen und weltoffenen Familie sind wir 3 Bontjeskinder aufgewachsen: meine Schwester Cato, …mein Bruder Tim und ich…Wir konnten uns in einer ungewöhnlichen Welt bewegen, in der Malerei, Bildhauerei und Musik zum Alltag gehörte…Meine Mutter Olga Breling- Bontjes van Beek wählte zu ihrer Ausdrucksform den modernen Tanz nach neuer Musik….Nach Heirat und Geburt ihrer drei Kinder widmete sie sich ausschließlich der bildenden Kunst…..Mein Vater, Jan Bontjes van Beek, der Keramiker, entstammte einer alten niederländischen Kaufmannsfamilie. Er war Autodidakt. In Glasur und Formgebung konnte er einen eigenen unverkennbaren Stil entwickeln…." (Seite 14)

Isolation

1933. Ein kalter Januartag. Ich musste Milch holen. Die Bauern standen an der Straße vor ihren Häusern und redeten laut…Ich erinnere mich an die große Ratlosigkeit, die in unserem haus herrschte, als ich vom Milchholen zurückkehrte... Wir waren zwar noch sehr jung…doch konnten wir den Schrecken deutlich spüren, der die Erwachsenen erfasste…. Uns gelang es, den Eintritt in eine nationalsozialische Jugendorganisation zu umgehen. An jedem Sonnabend Vormittag hatten sich die Mitglieder…auf einem freien Platz oder in der Turnhalle zusammenzufinden…Die Unterrichtspflicht betraf nur die Bontjeskinder. ..Wir gingen wie an den gewöhnlichen Schultagen brav mit unseren Tornistern zum Unterricht. Wenn uns auf dem Weg dorthin Jugendliche des Dorfes in ihrer HJ-Kluft begegneten, riefen wir einander „Heey" zu, es waren doch unsere Freunde. Nur unser Lehrer murrte. Er hätte am Sonnabend nach dem Fahnenappell frei gehabt und somit viel Zeit, sich um seine Bienen zu kümmern….. Was waren dies für Kinder, die sich dem Eintritt in die Hitlerjugend verweigerten? Aufgewachsen in unserem kleinen Dorf, mit den Schulkameraden vertraut, waren wir durch unsere häusliche Umgebung anders geprägt…" (Seite 31 - 33)

Niemand kann gegen den Strom schwimmen

….Allein der alte Lehrer wollte noch immer nicht verstehen, dass wir fünf Kinder am Sonnabend in seine Klasse zum Unterricht kamen. In seiner Seele kein Hitleranhänger, doch dem Deutschen Beamtentum treu ergeben, hielt er unseren Ungehorsam für 'Unordnung, die man in der Schule nicht dulden durfte. Resigniert konnte er nur seinen Kopf schütteln, die kleine Schar Unbeugsamer mit dem ernsten Satz ermahnen: 'Kinder, ich sage Euch, niemand kann gegen den Strom schwimmen!’ Da erhob Cato den Finger und rief: ‚Aber wir können es!’" (S. 55)

Brulez ces lettres

"Wenn ich am frühen Morgen, vom Bahnhof Witzleben kommend, am Westkreuz umsteigen musste, befanden sich in den letzten Waggons des Zuges, den so genannten Großwagen, sehr oft französische Kriegsgefangene, die mit uns fuhren. Durch ein winzig kleines Fenster an der Trennwand zwischen den Abteilen konnte man während der landen Fahrt nur ihre Augen erkennen. Ich blickte sie an und wurde nur von Augen gesehen - leeren, glanzlosen Augen! So entstand der erste Kontakt mit den Gefangenen, ganz im Verborgenen. Manchmal erreichte mich mit ihren Blicken nur ein Lächeln. Es wurde mit einem versteckten Lächeln erwidert….

Beim Einsteigen konnte man es immer einrichten, sich unbeobachtet unter die Gefangenen zu mischen. Dies mußte stets schnell geschehen und dauerte nur ein paar Sekunden: Der Zug hielt an, man ließ einige Leute aussteigen, wartete kurz und sprang aus dem Abteil auf den Bahnsteig, wo die Gefangenen bereits vorüberzogen. Mit gespielter Eile drängelte man sich durch einen Trupp, übergab einen Zettel Oder nahm blitzschnell einen Brief entgegen und hastete dem Ausgang zu. So entstand eine gefährliche 'Untergrundpost'. Aber durch sie erfuhren wir von den Nöten und seelischen Qualen, die sich immer einstellen, wenn der Mensch gefangen und alleingelassen ist. Die Gefährlichkeit unseres Tuns war uns sehr wohl bewusst….."(Seite 79 - 81)

"Als ich im März 1942 Berlin plötzlich verlassen musste, um einer Einberufung zum Reichsar-beitsdienst zu entgehen, habe ich innerlich von dieser Stadt und von den Franzosen Abschied genommen.

Von da an begann für uns in der Familie die Tragödie: Meine Schwester Cato, die sich an den Aktivitäten (Produktion von Flugblättern) der Widerstandsgruppe Harro Schulze-Boysen beteiligte, die die Nazis unter dem Aktenzeichen 'Rote Kapelle' führten, und nach der Trennung von dieser Gruppe selbständig gegen das Hitlerregime arbeitete, wurde im September 1942 verhaftet und am 5. August 1943 auf persönlich Befehl Hitlers in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Mein Bruder Tim stand als Soldat an der Ostfront, am Donez. Nur spärlich erreichten uns seine Briefe. Ich selbst entrann der Gestapo, wurde schwer krank und ging, um mich versteckt zu halten, zugleich aber meiner Krankheit wegen, zu meiner Tante Lolo Modersohn ins Allgäu. Hier, eingeschlossen von hohen Bergen, in einer gewaltigen Natur, blieb nur -Schmerz."(Seite 82/83)

Das trunkene Schiff

Ich sehe uns in Baskenmützen durch die Straßen Berlins gehen. Sich nur nicht an die Kleidernorm halten! Kleidung als Sprache. Wir deklarieren die 'Fleurs du mal' von Baudelaire, lasen Verse von Verlaine und Rimbaud. Das Trunkene Schiff, worin sich unendliche Welten, Träume und abgrundtiefe Realitäten auftaten, war unser Leitmotiv.

Welch böse Wirklichkeit...! Waren wir denn nicht auch eingeschlossen in dem schwarzen Raum eines furchtbaren Welttheaters, in dem es Akteure wie Zuschauer gab? Doch, beides: das eine wie das andere. Wie sollten wir da nicht ausbrechen wollen aus dem Teufelskreis?" (Seite 66)